Folge 087: Interview mit Barbetreiber Roger Cheetham, der nach einem Mordversuch eine neue Art zu dienen fand

Der Weg zurück ins Leben-Podcast – von und mit Christina Bolte sowie heute mit ihrem Interview-Gast Roger Cheetham.

Roger Cheetham

Interviewpartner Roger Cheetham aus Yorkshire

Meinen heutigen Interviewpartner Roger Cheetham lernte ich während des Coronoa-Lockdowns in einem Online-Kurs kennen. Er stammt aus dem britischen Yorkshire und war er Gastwirt (publican licence) in einem englischen Pub. Bis er eines Abends, am 9. Juni 2013, das Haus (in dem er nicht nur den Pub hatte, sondern auch mit seiner Familie wohnte) verließ, um mit ihrem schwarz-weißen Terrier Jasper eine Abendrunde Gassi zu gehen.

Drei unbekannte Personen mit schwarzen Masken und schwingenden Baseballschlägern lauertem ihm und seinem Hund auf und umzingelten sie. Dann schlugen sie zu und versuchten, ihn umzubringen.

Nach diesem versuchten Mord sprang er dem Tod gerade noch von der Schippe, es folgten eine längere Rekonvaleszenz. Und es bleiben ihm nun lebenslange Behinderungen. Dennoch blickt er optimistisch in die Zukunft, denn die lange Zeit seiner Rekonvaleszenz fand er einen neuen Sinn und eine neue Art zu dienen.

Höre hier unser Interview in englischer Sprache:

Eine kurze Zusammenfassung von Rogers Erzählung auf Deutsch findest Du im Folgenden:

Für den Pachtvertrag hatten er und seine Frau bereits eine Kündigung erhalten, weil der Pub nicht mehr rentabel war. Innerhalb von 4 Tagen hätten sie den Pub verlassen sollen. Deshalb vermutet er einen Zusammenhang damit, dass die drei maskierten Personen mit den Baseballschlägern ihm auflauerten. Sie umzingelten ihn und seinen Hund, kurz bevor sie nach der Gassi-Runde wieder das Haus erreichten.
Den Überfall beschreibt er mit den plastischen Worten, dass er am Boden lag und das Geräusch hörte, als seine eigenen Knochen brachen. Jedes Mal als er schluckte, schmeckte er sein eigenes Blut. Er hatte schlimme Verletzungen im Gesicht und an den Beinen.

Roger hatte das Glück, dass eine Nachbarin den Überfall mitbekam und sofort die Polizei und den Rettungswagen rief. So konnte er sehr schnell ins örtliche NHS (National Health Service) Hospital gebracht werden. Dennoch hörte er dort durch einen Vorhang hindurch wie ein Arzt seiner Frau sagte, dass es unwahrscheinlich sei, dass er die Nacht überleben würde. Falls doch, würde er in jedem Fall mehrere Monate dort im Krankenhaus bleiben müssen. Es sei fraglich, ob sein rechtes Bein gerettet werden könne.

Er blieb über drei Monate in der Klinik, und wie wir hören können, hat er überlebt. Auch sein Bein wurde gerettet, außer dass es nun etwas kürzer geworden ist als das andere. Dennoch ist er sehr froh, dass es immer noch sein eigenes Bein ist.
Die Zeit in der Klinik hat er neben den Schmerzen, die die Verletzungen und Folgen des Überfalls mit sich brachten, überwiegend in Isolation verbracht. Und darüber hinaus hat er sich zu allem Überfluss auch nach einer Woche noch einen Krankenhauskeim (MRSA) eingefangen.

So sagt Roger allen, die mit den verschiedenen Graden des gegenwärtigen Lockdowns ringen:

“Ich weiss wie ihr euch gerade fühlt, wie es euch gerade geht.” Denn auch nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus war die Isolation noch nicht vorbei. Denn das folgende Jahr seiner Rekonvaleszenz verbrachte er mehr oder weniger komplett im Wohnzimmer der Familie. Das war gleichzeitig sein Schlafzimmer, weil seine Beweglichkeit ja immer noch sehr stark eingeschränkt war. Auch die Umbaumassnahmen und mobilitätsgerechten Anpassungen des neuen Hause Monate dauerten. Er beschreibt diese Phase als Test nicht nur seiner eigenen Resilienz. Sondern auch noch die Resilienz seiner Frau und seiner damals 15-jährigen Tochter Tash (die sich zu dem Zeitpunkt überdies auch noch auf die Abschlussprüfungen ihrer Schule vorbereitete) wurden auf die Probe gestellt.

Auf die Frage, wie lange er nach dem Überfall so am Boden gelegen hätte, erinnert er sich an diese einen kurzen Moment. Er musste eine Entscheiden fällen, zwischen Flucht/flight (‘tun die dann auch meiner Familie was an?’) oder Kampf/fight (‘Gewalt ist keine Lösung, ausserdem ist 1 unbewaffneter Mann mit Hund gegen 3 Männer mit Baseballschlägern nie ein fairer Kampf’) oder Totstellen/freeze (‘egal was passiert, es wird nicht so bald vorbei sein’). Seine Empfehlung für jeden ist in so einer Situation, sich bemerkbar zu machen, nach Hilfe zu schreien (was der Grund war, dass seine Nachbarin so schnell den Rettungsdienst gerufen hatten).

Gab es auch positive Erfahrungen in Verbindung mit diesem Vorfall?

Roger hat sehr positive Erinnerungen an das ganze Personal im NHS in der Klinik aber auch den Physiotherapeuten, der ihn während seiner Genesung zu Hause betreute. Man hatte ihm gesagt, dass er nie wieder gehen können würde. Daher ist er sehr stolz, dass er nun wieder alleine – wenn auch auf Krücken – gehen kann. Nur noch im Notfall muss er auf seinen Rollstuhl zurück greifen.
Mittlerweile sieht er sich auch nicht mehr als “Opfer eines versuchten Mordes”. Sondern als “Überlebender eines versuchten Mordes” bis hin sogar als jemand, der an einem versuchten Mord gewachsen ist.

Darüber hinaus ist es ihm auch gelungen, den Überfall für sich so herumdrehen, dass er für ihn nicht mehr “etwas Negatives ist, das ihm zugestoßen ist”. Sondern im Gegenteil “etwas Positives, nicht nur für ihn sondern auch für andere”, mit denen er mittlerweile seine Erfahrungen geteilt hat. So spricht er nun regelmäßig vor Schülern oder vor Gremien, um ihnen Zuversicht zu geben. In seinen Resilienz-Workshops hebt er aufgrund seiner Erfahrungen auch immer die Empathie als wesentliche Säule der Resilienz hervor.

Welches waren Deine größten Deine Lernerfahrung während Deiner Auszeit:

Das war bei mir ein bisschen so ähnlich wie im berühmten TED-Talk von Simon Sinek “Finding your Why” [Anmerkung: den Du HIER in Englisch mit deutschen Untertiteln anschauen kannst]. Nur dass ich eben gelernt habe, meinen Fokus statt auf mich selbst auf andere zu richten. Es war nicht so, dass da ein Weiser mit einem Zauberstab oder einigen inspirierenden Worten gewesen wäre und dann war alles anders. Sondern eher so, dass mir während meiner dunkelsten Zeiten – die Zeit während meiner Rekonvalsenzen zu Hause, und nicht etwa im Krankenhaus – der Gedanke kam: “Wenn das alles ist, was vom Leben übrig ist – war das jetzt wirklich diesen Kampf mit den Operationen wert?”

Und nachdem ich dann für mich geklärt hatte, dass ich meine Botschaft rüberbringen möchte, anderen Menschen helfen möchte, resilienter, widerstandsfähiger in schwierigen Zeiten zu werden, hatte ich mein WARUM gefunden. Und danach konnte ich mich dafür entscheiden, WIE ich das machen wollte.

Warst Du vorher denn auch schon so extrovertiert, dass Du auf große Bühnen gegangen bist?

Nun ja, als Barmanager hab ich natürlich primär die Drinks serviert, die die Leute geordert hatten. Aber in der Rolle war ich natürlich gleichzeitig auch noch vieles andere – Finanzberater, Eheberater, und was auch immer die Kunden noch in Dir sehen… Eigentlich mehr zuhörend als selbst redend… Aber wenn Du eine Bar betreibst, öffnest Du damit irgendwie Fremden auch schon Dein Wohnzimmer, dazu braucht man schon Vertrauen.

Aber kurz bevor ich aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte, schlug meine Frau Clare vor, zur Abwechslung mal ins Krankenhaus-Café zu gehen. Ich hab Schweißausbrüche und Schüttelanfälle bekommen, so dass ich sagte, ich könne da nicht hingehen, da würden ja Leute sein. Also, das war mein mentaler Zustand zu dem Zeitpunkt damals, und bis heute, wenn ich schon mal vor 2000 Leuten spreche, brauchte es noch einen ordentlichen Zuwachs an (Selbst-)Vertrauen. Deshalb denke ich heute, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, meinem Publikum einen Mehrwert zu bieten, bräuchte ich mich gar nicht erst auf die Bühne zu stellen, egal ob in Schulen oder auf Netzwerkveranstaltungen. So kommt das Selbstvertrauen, mich vor so großes Publikum zu stellen, aus dieser Überzeugung heraus, einen Mehrwert zu bieten und dass es nicht um mich geht, sondern um mein Publikum.

Deine größten Ängste während Deiner Auszeit im Krankenhaus bzw. zu Hause:

Meine größte Angst, während ich so nachdachte (und dafür hatte ich so alleine in meinem Krankenzimmer oder zu Hause im Wohnzimmer viel Zeit) waren zwei Fragen: 1) Wenn der 9. Juni 2013 der letzte Tag meines Lebens gewesen wäre, hätte ich wirklich alles erreicht, was ich wollte? Und 2) Hatte ich für die Welt einen Unterschied gemacht, hatte ich irgendetwas hinterlassen, das ich hätte wollte? Und die Antwort auf beide Fragen war ein klares Nein. Das hat mich wirklich mit Angst erfüllt.

So ist heute eines meiner Lieblingszitate, dass ich in meinen Vorträgen gerne teile: “Die Vergangenheit ist ein “Ort der Referenz” (place of reference) nicht ein Aufenthaltsort (place of residence). Soll heißen: Ich lebe nicht in der Vergangenheit. Sondern ich akzeptiere, dass ich sie nicht verändern kann, selbst wenn ich nicht genug erreicht hätte. Was ich aber tun kann, ist positiv in die Zukunft zu schauen. In meinen Kursen ist Optimismus eine weitere wesentliche Säule der Resilienz. So kann ich heute sagen, dass ich optimistischer in die Zukunft blicke, als jemals zuvor.

Deine größten Hoffnungen für die Zeit nach – gab es überhaupt einen Punkt, von dem Du sagst: “Ab da war es vorbei?” oder war das eher ein Prozess?

Ja, es war eher ein allmählicher Prozess. Denn selbst als ich aus dem Krankenhaus entlassen war, gab es eine Phase, in der ich bis zu zehn ambulante Arzttermine pro Woche wahrnehmen musste. Also waren wirklich sehr kleine Schritte (baby steps), also nicht nur metaphorisch sondern auch sehr wörtlich gemeint. Aber der Moment, als ich zum ersten mal in einem Klassenzimmer war: Da wusste ich, dass ich einen Sinn oder ein Ziel (Purpose) im Leben habe! Anderen Menschen, vor allem jungen Menschen, zu dienen, in dem ich ihnen Hoffnung mache und ihnen Resilienz vermittele. Das ist einfach etwas ganz unvergleichlich anderes als vor dem Überfall, als ich meinen Gästen Biergläser serviert habe.

Als ich dann langsam wieder anfing, mich ins “echte Leben” zu integrieren, wollte ich meine Geschichte eigentlich gar nicht teilen, weil ich kein Mitleid haben wollte. Aber natürlich haben mich die Leute jedes Mal gefragt, was ich gemacht hätte, als sie das Metallgestell um mein Bein sahen. Ganz oft war die Reaktion, dass sie sagten, wie tapfer ich wäre. Dabei ist tapfer für mich ein Begriff, der jemanden beschreibt, der uns auf dem Schlachtfeld verteidigt oder das medizinische Personal, das in vorderster Reihe Menschen mit Covid rettet. Aber da war mal diese eine spezielle Situation, in der ich meine eigene Verletzbarkeit gezeigt und meine Geschichte geteilt habe. Dies ermöglichte es einem zehnjährigen Schüler, einer von denen, die noch nie irgendeinen Respekt gegenüber einer Lehrkraft gezeigt haben, seine eigene Geschichte und Verletzlichkeit zu offenbaren.

Was waren Deine Ressourcen, um diese schwierige Phase zu überstehen.

Ich glaube, das wichtigste war für mich der Einstieg in die Persönlichkeitsentwicklung. Diese begann damit, dass ich das Buch “Life’s golden Ticket” von Brendon Burchard gelesen habe [Anmerkung: auf deutsch siehe unten: “Das Ticket zum Glück”]. Mein Lieblingsbuch als Kind war Roald Dahl’s “Charly and the Chocolate Factory”. Ich glaube, das war der Grund, warum ich das Buch überhaupt gelesen habe, weil es auf diesem Buch basiert. Der Originalfilm war mit Gene Wilder in der Hauptrolle, und das Remake mit Johnny Depp.

In dem Buch geht es um die 4 A’s – Bewusstsein (Awareness), Action, Verantwortung (accountability) und Akzeptanz – und jedes dieser A’s war mit einem Jahrmarkt-Fahrgeschäft verknüpft. Und ich bin trotz meiner Behinderung immer noch ein großer Jahrmarkt-Fan! Deswegen hat mich dieses Buch so von den Themen der Persönlichkeitsentwicklung fasziniert. Natürlich hatte ich auch noch Mentoren und Coaches, die mir dabei geholfen haben, meine Antworten zu finden. Und natürlich Rollenvorbilder, die schon dort waren, wo ich hinwollte.

Accountability

Ich hatte ja schon in Zusammenhang mit Life’s golden Ticket von Verantwortlichkeit (accountability) gesprochen. Ich bin ich ganz großer Befürworter von accountability buddies (jemandem, dem gegenüber man Rechenschaft ablegt). Denn man kann sich selbst ja allen möglichen Quatsch erzählen, warum man nicht die Zeit für dieses oder die Stimmung für jenes hatte oder das ging nicht, weil wir Lockdown hatten. Aber wenn Du so einen Buddy irgendwo in der Welt hast, mit dem Du einmal in der Woche sprichst, und Du erzählst dem laut diese Ausreden, die Du Dir selbst glaubst. Dann fällt Dir nicht nur auf, dass es eben genau das ist – Ausreden. Sondern Du hast auch noch das Gefühl, Deinen Buddy im Stich zu lassen. Dennl er nimmt sich ja die Zeit, Deine Fortschritte anzuhören, und Du erzählt ihm, dass es keine gibt.

Natürlich hatten wir am Anfang auch eine ganz schwierige finanzielle Situation. Denn die Bar war sowohl für mich als auch für meine Frau Einkunftsquelle. Nach dem Überfall war unser Einkommen gleich null. Weil sie ja vier Monate lang jeden Tag bei mir im Krankenhaus war und danach mich erstmal in Vollzeit gepflegt hat. Wir haben auch die ersten sechs Wochen gar nichts aus dem staatlichen Soziallsystem bekommen. Deshalb hat uns unsere erweiterte Familie unterstützt. Gleichzeitig habe ich da erfahren, wie wichtig es ist auch um Hilfe zu bitten.

Blitzlicht-Runde:

Die Essenz Deiner Auszeit in einem Satz:
Eine massive Transformation, die es mir ermöglicht hat, einen großartigen Lebenssinn zu haben.

Der wichtigste Schritt, der Dich über Deinen Wendepunkt hinaus gebracht hat:
Meinen Fokus von mir selbst auf andere zu verlagern, mehr aus der Haltung des Dienens heraus. Natürlich war ich als Barmanager auch in einer “dienenden Haltung”, aber jetzt ist diese mit viel viel mehr Sinn verbunden.

Die wichtigste Ressourcen, in dieser Phase:

Ein Buch: * Das Ticket zum Glück von Brendon Burchard (auf englisch: * Life’s Golden Ticket: A Story About Second Chances)
und andererseits noch das Elite Network (heute Evolve Network) von Will Polston (keine Ahnung, ob es so etwas ähnliches auch in Deutschland gibt)

Deine besten Buchempfehlungen:
sind Klassiker im Bereich Persönlichkeitsentwicklung, aber nach wie vor aktuell:

Was möchtest Du unseren Zuhörern zum Abschluss noch mit auf den Weg geben:
Resilienz ist nicht nur, aus Widrigkeiten wieder auf die Beine zu kommen. Sondern es bedeutet vor allem nach vorne, in die guten Zeiten, zu springen.

Deine Kontaktdaten:
www.rogercheetham.com

 

 

*Affiliate-Link: Du zahlst den normalen Preis und ich bekomme eine kleine Provision.

One Reply to “Folge 087: Interview mit Barbetreiber Roger Cheetham, der nach einem Mordversuch eine neue Art zu dienen fand”

  1. Ein sehr interessanter, berührender Podcast. Welch beeindruckenden Weg hat Roger zurückgelegt, diese Kraft hat nicht jeder. Mich würde interessieren, ob der Glaube ihm auch geholfen hat. Und wunderbar, dass seine Frau ihm so beigestanden hat. Ein bemerkenswertes Beispiel von Liebe und von einem Weg zurück ins Leben!

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